Flight, Fight, Freeze
Etwa zwei Drittel der Opfer, die May berät, beziehen eine Rente wegen Erwerbsunfähig-keit. Die Erfahrungen der Kindheit und Jugend haben sie traumatisiert. Silke Birgitta Gahleitner, Sachverständige am Runden Tisch Heimerziehung, sagt, ein Trauma rühre aus einem Diskrepanzerlebnis her, in dem eine Bedrohung und die Möglichkeit, sie zu bewäl-tigen, weit auseinander klaffen. Der Mensch versuche zunächst, einer solchen Situation zu entfliehen. Gelinge das nicht, kämpfe er. Sei ihm auch das verwehrt, gefriere er. Auf eng-lisch lautet die Alliteration des Schreckens: Flight, Fight, Freeze.
Das Einfrieren sei am gefährlichsten, sagt Gahleitner. Es könne zur Amnesie, zu somati-schen Leiden oder Fehlgeburten führen. Immer wieder kämen die Opfer in „Trigger-Situ-ationen“, die das alte Gefühl der Ohnmacht auslösen. Wenn jemand seine Akten ein-sehen will und auf den Jugendämtern jene antrifft, die er als Peiniger in Erin-nerung hat. Wenn der Heimleiter von einst noch heute im Jugendamt sitzt. Wenn Behörden und Justiz aus Akten des Unrechtsstaates zitieren. Ein Opfer beklagt denn auch in Erfurt „die Netzwerke, die über die Wende hinaus bestehen“.
Arbeitszwang auch aus ökonomischen Gründen
Das System der DDR-Heimerziehung hat Parallelen zu den Verhältnissen in den Heimen der frühen Jahre der Bundesrepublik. Die gemeinsame Wurzel sieht Manfred Kappeler, ebenfalls Sachverständiger am Runden Tisch Heimerziehung, in den Jahren bis 1945. Kappeler, der das System der Heimerziehung im Westen als „postfaschistisches System“ sieht, sagt, ihm sei nach dem Mauerfall klar geworden, „wie ähnlich die Heimerziehung in der BRD und der DDR doch waren“. Im Westen freilich konnten Kritiker die Missstände offen anprangern.
Christian Sachse, früher Pfarrer in Torgau, heute freier Publizist, sammelt mit Akribie Fakten im Bundesarchiv und in den Unterlagen des Ministeriums für Volksbildung. In den DDR-Heimen, so sagt er, herrschte Arbeitszwang nicht nur aus sozialistischerzieherischen Gründen, sondern auch aus ökonomischen. Aus der Industrie vor allem im Braunkohlere-vier und an der Ostseeküste kamen demnach Anforderungen, Jugendwerkhöfe zu errich-ten, um die Betriebe mit billigen Arbeitskräften zu versorgen.
Manche Insassen erlitten Erfrierungen
In der DDR gab es 25.000 bis 30.000 Plätze in Normalheimen. Davon unterschieden sich die Spezialheime mit 6000 Plätzen für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Wer vierzehn Jahre oder älter war und als schwer erziehbar galt, kam in die Jugendwerkhöfe als eine Kategorie von Spezialheimen. Für Kinder und Jug-endliche, mit denen die Spezialheime nicht zurecht kamen, gab es Sonderheime für päda-gogisch-psychiatrische Therapie. Ergänzt wurde das System durch den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, das Erziehungs- und Arbeitslager Rüdersdorf sowie Durch-gangslager in allen Bezirken der DDR. Allein in den Spezialheimen für Kinder und den Jugendwerkhöfen für Jugendliche waren während 40 Jahren Sozialis-mus 120 000 Menschen interniert.
Oft waren die Heime in baufälligen Villen und Gutshäusern untergebracht. Manche Insas-sen erlitten Erfrierungen. Für die Ernährung standen Lebensmittel im Wert von 3,30 Ost-mark am Tag zur Verfügung. In den Heimen trafen gewalttätige Minderjährige auf trau-matisierte Kinder, Sexualtäter auf Opfer sexueller Gewalt. Jugendliche, die wegen ihres Hangs zu westlicher Musikkultur aufgefallen waren, wurden mit Kriminellen weggeschlo-ssen. Die Erziehung war streng. Bestraft wurde mit Entzug von Nahrung und Schlaf. In Einzelfällen gab es sexuelle Übergriffe – von Jugendlichen teils hingenommen, um Vor-teile zu erreichen. Selbst die Jugendwerkhöfe boten nach Sachses Recherchen „aus metho-dischen Gründen“ die Gelegenheit zur Flucht: So konnte man den Delinquenten nach abermaliger Festsetzung besser bestrafen. Wenn das Bett nicht richtig gebaut war, die Zahnbürste in falscher Richtung im Becher lehnte oder der Hocker beim Frühstück zu laut über den Boden schurrte, wurde nicht der Einzelne, sondern das Kollektiv bestraft. Das Kollektiv nahm wiederum Rache am Einzelnen. Dafür gaben die Erzieher offenbar Gele-genheit: „Ich bin jetzt mal zwei, drei Stunden weg. Behandelt den mal selbst.“ May lernte in den Gesprächen Begriffe wie „U-Boot-Tauchen“ oder „U-Raum-Disko“. Zöglinge drückten anderen Zöglingen den Kopf unter Wasser, bis sie fast ertranken. Die Erzieher gaben Stiefel oder Schutzhelme aus, damit ein Zögling, der dem Kollektiv eine Strafe eingetragen hatte, von den anderen in der Umkleide mit den Stiefeln getreten oder den Helmen geschlagen wurde.
„Helfer in der Frischeierproduktion“
In den Durchgangsheimen, so hörte May aus den Erzählungen der Opfer, wurden die Kinder und Jugendlichen einer Aufnahmeprozedur unterzogen wie in Torgau. In einer Leibesvisitation wurden die Körperöffnungen inspiziert, dann wurden die Haare kurz geschnitten. Die Zeit im Heim begann in einer dunklen Einzelzelle. Mobiliar: ein Hocker, ein Eimer für die Notdurft, eine Pritsche, die tagsüber hochgeschlossen oder entfernt wurde.
In den Jugendwerkhöfen wurden die Kinder zum „Helfer in der Frischeierproduktion“ oder zur „Helferin in der Textilveredelung“ gemacht. Aus Scham über diese Demütigung gaben die Jugendlichen die Berufe später nicht an, rissen die entsprechenden Seiten aus ihrem Sozialversicherungsausweis, versuchten bei Bewerbungen zu verschweigen, dass sie im Heim oder Jugendwerkhof waren.
Nur einer der Stasi-Offiziere hat sich bei ihm entschuldigt
In den Heimen waren Kinder und Jugendliche, die renitent oder schwer erziehbar oder straffällig geworden waren. Aber es kamen auch Kinder, die aus politischen Gründen fest-gehalten wurden, oder weil sie zu Opfern häuslicher Gewalt geworden waren und nun ihrerseits wie Täter behandelt wurden. Die Formulierungen in den Akten, sagt May, seien schwammig. Von „Bummelei“ sei häufig die Rede. Der Begriff der „Herumtreiberei“ taucht häufig bei Mädchen auf, die Opfer sexueller Übergriffe geworden waren. Sie versuchten ihrem Peiniger zu Hause auszuweichen und trieben sich deshalb auf der Straße herum. Die Kinder von einst berichten May heute, dass sie ihre häusliche Lage dem Jugendamt schild-erten. Dennoch seien sie ins Heim eingewiesen worden,während zu Hause alles beim alten blieb. Das „Erziehungsziel“ des Mädchens im Heim lautete: „Bekämpfung der sexuellen Triebhaftigkeit“ oder „Verbesserung des Verhältnisses zum anderen Geschlecht“.
Wie die Staatssicherheit auf die Jugendhilfe einwirkte, ist nach den Untersuchungen von Kerstin Dietzel von der Hochschule Magdeburg-Stendal schwierig herauszufinden. Es feh-le an Dokumenten, die Hinweise seien in den Akten oft verschleiert. Aber die Berichte der Zeitzeugen sprechen für sich.Ein Vater, der wegen staatsfeindlicher Hetze verhaftet wurde, sagte: „Da hatten wir große Angst, dass die mich verhaften,und das Kind kommt ins Heim. Meine Frau haben sie verhaftet, meine Mutter haben sie verhaftet.Und nun mich, und nun nehmen sie mein Kind.“ Stasi und Jugendhilfe verleumdeten die Eltern und streuten Gerüchte. Ein Sohn sagte seinen Eltern nach seinem Heimaufenthalt: „Die sagten mir, ihr wolltet in den Westen und wolltet euren behinderten Sohn zurücklassen.“
In den Heimen wiederum warb das Ministerium für Staatssicherheit die Kin-der als Spitzel an, diktierte ihnen die Verpflichtungserklärung, wie ein Zeitzeu-ge aus Thüringen in Erfurt berichtet. Wie es ihm heute gehe? Schlechter als damals. Er lebe vom Arbeitslosengeld, das er sich mit Taxifahren aufbessere. Nur einer der Stasi-Offi-ziere habe sich bei ihm entschuldigt. Daraufhin tranken sie gemeinsam ein Bier.
Quelle: F.A.Z.
Die Leiden der zwangssterilisierten Kinder im Spezialkinderheim Meerane – oder Sommer 1981- Die unterschlagene Aufarbeitung des DDR-Sozialismus