NS-Täter in der DDR oder Wie die Stasi SS-Leute aus Auschwitz erpresste
von Benjamin Schulz
Als ehemaliger Auschwitz-Wachmann im antifaschistischen Musterstaat leben? Eigentlich undenkbar. Doch tatsächlich arrangierte sich die DDR mit vielen, die im KZ Dienst getan hatten. Der Preis: ein Zwangspakt mit der Stasi.
Josef Settnik wusste, worum es ging. Also packte er in der Stasi-Kreisdienststelle in Dippoldiswalde lieber gleich aus. SS-Freiwilliger, SS-Infanterist, ab Januar 1942 Dienst im Konzentrationslager Auschwitz: Settnik nannte die Stationen seiner NS-Karriere.
Er rechnete fest damit, im antifaschistischen Musterstaat DDR vor Gericht gestellt zu werden. Von seiner Frau habe er sich verabschiedet und sein „Amen“ gebetet, sagte er. Am Ende des Gesprächs saß er weinend am Tisch – weil ihm die Stasi-Leute ein Angebot gemacht hatten, das er nicht ausschlagen konnte. Seine Vergangenheit in der SS sollte vergessen sein, wenn er mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperieren würde. Fortan bespitzelte er Angehörige seiner katholischen Gemeinde.
Die Stasi warb Settnik 1964 an, vor 50 Jahren, als im Westen der erste Auschwitz-Prozess lief. Und wie mit ihm ging die DDR mit vielen von denen um, die in Auschwitz Dienst getan hatten: Sie blieben von der Justiz unbehelligt. „NS-Täter hatten in der DDR eine große Chance, ungeschoren davonzukommen, wenn sie sich unauffällig verhielten oder kooperierten“, sagt Henry Leide von der Außenstelle Rostock des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Manche waren so unauffällig, dass sie erst kürzlich, Jahrzehnte nach dem Ende der DDR, in den Fokus der Justiz gerückt sind.
Karriere statt Knast
Johannes A. ist so jemand. Ab 1942 war er als SS-Rottenführer in Auschwitz tätig und auch in der Wachkompanie des Konzentrationslagers Monowitz. Dort starben mehr als 25.000 Zwangsarbeiter. Nach dem Krieg machte er in der DDR als Hochschullehrer Karriere, war hoch angesehen.
A. gehörte zu den 30 ehemaligen Angehörigen des KZ-Personals von Auschwitz, gegen die die Ludwigsburger Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung national-sozialistischer Verbrechen im September 2013 die Vorermittlungen abgesch-lossen hatte. Die Fälle waren für weitere Ermittlungen an die zuständigen Staatsanwalt-schaften übergeben worden. Doch die Staatsanwaltschaft Halle stellte im Mai die Ermittlungen wegen des Verdachts der mehrfachen Beihilfe zum Mord ein, weil A. nicht vernehmungs- und verhandlungsfähig war.
Die Geschichten von Settnik und A. werfen ein Schlaglicht auf den Umgang der Stasi und DDR-Justiz mit dem Thema Auschwitz. Der war keineswegs so konsequent und umfassend, wie das Regime nach außen glauben machen wollte.
739 Urteile gegen NS-Täter
Bereits 1950 schaltete sich die Stasi in die Strafverfolgung ein – von da an gab es eine „starke politische Einflussnahme“, sagt Annette Weinke von der Universität Jena. Die Wissenschaftlerin hat ihre Doktorarbeit über NS-Strafverfolgung in BRD und DDR geschrieben. „Dass Täter geschont wurden, war in dieser Phase eher selten“, sagt sie. Dazu sei der Druck von sowjetischer Seite zu groß gewesen. „Verfahren aus politischer Opportunität nicht anzustrengen, ist eher ein Phänomen der Sechziger- und Siebziger-jahre.“
Nicht eindeutig klären lässt sich bis heute, was in der DDR Regel und was Ausnahme war: die juristische Verfolgung mutmaßlicher Auschwitz-Täter oder die Nicht-Verfolgung als Gegenleistung für andere Dienste. Experten schätzen, dass DDR-Gerichte etwa 20 Personen wegen im KZ begangener Taten verurteilten.
„Bei Auschwitz sieht man, wie die Stasi manövriert hat: Manche wurden verurteilt, andere als Spitzel angeworben, andere blieben unbehelligt“, sagt Leide. Man könne aber durchaus von einer Täterschutzpolitik der Stasi sprechen. Insgesamt gab es laut Leide zwischen 1950 und 1989 in der DDR 739 Urteile gegen NS-Täter.
Die DDR-Justiz habe mit der NS-Strafverfolgung andererseits auch punkten wollen, sagt Historikerin Weinke. Etwa mit dem Prozess gegen das frühere SS-Mitglied Hans Anhalt. Er wurde 1964 – parallel zum ersten Auschwitz-Prozess im Westen – zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Anhalt nannte sich die „rechte Hand“ des Auschwitz-Lager-arztes Josef Mengele. Zu den bekannteren Fällen zählt auch das Todesurteil gegen den SS-Hauptsturmführer Horst Fischer. Er hatte laut Anklage in Auschwitz Zehntausende Menschen zur sofortigen Vernichtung bestimmt. Fischer wurde im Juli 1966 hingerichtet.
„Mit dem Urteil gegen Fischer wollte man die Durchschlagskraft der eigenen Justiz belegen und das Dasein als antifaschistischer Musterstaat herausheben. Man wollte zeigen, dass man schneller und besser zu härteren Urteilen kam“, sagt Leide. Alles sei der Auseinandersetzung mit der BRD „und ihren personellen Relikten aus der NS-Zeit“ untergeordnet worden.
Die Kehrseite dieser Strategie war freilich: Jedes Verfahren war ein Eingeständnis, dass die offizielle Lesart – alle Nazis sind schon lange verurteilt oder in den Westen geflohen nicht stimmte. Verurteilt worden seien deshalb nur Täter, sagt Leide, „die an schweren NS-Gewaltverbrechen beteiligt gewesen waren, also eine entsprechende Tatschwere vorlag, bei denen die Beweislage eindeutig war, keine innen- oder außenpolitischen Verwicklungen zu befürchten waren und bei denen die These vom bedauerlichen Einzelfall, der bei der Entnazifizierung durchgeschlüpft war, aufrechterhalten werden konnte.“
Wenn in den Sechzigerjahren noch reihenweise NS-Täter verurteilt worden wären, „das wäre peinlich gewesen“, sagt Weinke. „Man musste damit rechnen, dass das im Westen publik wird, der Klassenfeind mit dem Finger auf die DDR zeigt und die antifaschistische Agitation zunichtemacht.“ Entdeckte NS-Täter gingen daher straffrei aus, um die Propaganda nicht zu konterkarieren.
1,5 Millionen ehemalige NSDAP-Mitglieder in der DDR
Unbestritten ist, dass sich die vorgeblich antifaschistische DDR mit vielen Alt-Nazis arrangierte. 1951 ergab eine Zählung der SED, dass 174.928 ehemalige NSDAP-Leute oder Wehrmachtsoffiziere nun Parteimitglied waren. Insgesamt soll es 1,5 Millionen ehemalige NSDAP-Mitglieder in der DDR gegeben haben; eines war Ernst Melsheimer, Chefankläger der Generalstaatsanwaltschaft.
DDR-Bürger mit Nazi-Vergangenheit waren für die Stasi leicht erpressbar und wurden so zu willigen Spitzeln, etwa August Bielisch, der ab Juli 1943 im Vernichtungslager Ausch-witz-Birkenau Dienst getan hatte, und damit im Oktober 1971 von der Stasi konfrontiert wurde. Bielisch sagte damals, er habe in Auschwitz lediglich Wachdienst versehen und von Verbrechen im Lager nichts bemerkt. Dennoch wusste er, dass er kooperieren musste. Schriftlich hielt er fest, ihm sei klar, dass er wegen „[…] Verschweigens meiner Angehör-igkeit zur SS und der ausgeübten Tätigkeit als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz (Birkenau) strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Durch meine Bereitschaft, offen und ehrlich mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusam-menzuarbeiten, möchte ich meine Fehler wiedergutmachen.“
Die Haltung der Stasi drückte sich Leide zufolge sehr treffend in dem aus, was er 2006 auf einer Diskussionsveranstaltung hörte. Ein Mann erklärte, dass er dafür verurteilt worden sei, dass er in der DDR die Namen ehemaliger NSDAP-Mitgliedern publik gemacht habe. Stasi-Leute hätten ihm gesagt: „Wer Nazi war – das bestimmen wir!“
